Von alten Briefen geht eine besondere Faszination aus. Sie sind geblieben, auch als die, die sie einst schrieben, gegangen sind.

Schreib‘ mal wieder einen Brief… der bleibt

Was sich anhört, wie eine Werbung der Deutschen Bundespost, ist durchaus ernst gemeint. All die Chat-Möglichkeiten, Whats App, SMS oder auch Emails sind nichts gegen einen – im Besten Fall – handgeschriebenen Brief.

Von alten Briefen geht eine besondere Faszination aus. Sie sind geblieben, auch als die, die sie einst schrieben, gegangen sind.
Von alten Briefen geht eine besondere Faszination aus. Sie sind geblieben, auch als die, die sie einst schrieben, gegangen sind. (Foto: K.-U. Häßler – Fotolia.com)

 

Ich habe in den letzten Monaten sehr, sehr viele Briefe von meiner Mutter und meinem Vater aus mehreren Jahrzehnten gelesen und ihr Inhalt hat mich tief berührt.

Gestern Abend habe ich Briefe aus dem Zweiten Weltkrieg gelesen. Eine regelrechte Zeitreise. Mein verstorbener Bruder hatte mehrere Ordner mit Feldpost unseres Vaters aufbewahrt, und diese Ordner mit hunderten Briefen habe ich nun von seiner Tochter bekommen. Die Verfasser der Briefe sind in Sorge um einander und schildern die großen und kleineren Probleme der Kriegstage. Man macht sich heute keinen Begriff, was die Menschen aushalten mussten und unter welchen Gefahren der Alltag gemeistert werden musste. Es sind Liebesbriefe dabei, Träume und Wünsche in Worte geformt und der oder dem Liebsten übersandt. Selbst die Geschäftskorrespondenz meines Vaters mit Musikverlagen findet sich in den Ordnern.  Es sind auch Fotoalben dabei, von Urlauben und Familienereignissen.

Manche der Briefe haben die Adressaten nicht erreicht, blieben liegen, wurden ins Gepäck gelegt und fanden dann so immerhin den Weg nach Hause und schließlich in die Ordner.

Da gibt es die Geschichte von dem alten Major, der sich gegen Ende des Krieges im März 1945 von Ostpreussen aus in den Westen Deutschlands absetzen möchte und sich bereiterklärt hatte, Briefe mitzunehmen. Mein Vater schreibt, dass der Major es wohl nicht schaffen könne, weil er zu schwach sei, aber er hoffe trotzdem, dass so die Post der von den Russen eingeschlossenen deutschen Soldaten noch den Weg in die Heimat schaffe. Im nächsten Brief lese ich, dass der Major nicht gefahren ist, die Briefe lagen noch auf dem Schreibtisch in der Kommandantur.

Die aus Russland, Frankreich, Italien und Ostpreussen verschickten Briefe und Feldpostkarten sind nahezu vollständig erhalten. Nur wenige der Briefe verbrannten in zerbombten Postämtern oder Zügen – und so entsteht ein kompletter Handlungsstrang von den späten Dreißigern bis 1947.

Ich erfahre aus den Briefen viel mehr, als mein Vater je erzählte. Wie knapp es eigentlich oft für ihn war und wie immer wieder das Schicksal ihm einen Ausweg aus aussichtsloser Situation bot. So wurde er aus Stalingrad mit schwerer Gelbsucht ausgeflogen – an einem der letzten Tage, wo das noch ging. Aus dem Kessel von Ostpreussen gelang die Flucht mit einem Fährboot unter heftigem Beschuss eigener Truppen und der Russen nach Pillau und dann weiter auf die Nehrung. Von dort kam mein Vater als Begleitperson auf einem mit 6000 Menschen überfülltem Lazarettschiff über Schweden, Dänemark, Kiel schließlich nach Neustadt. Zunächst hatte man nur nach Bornholm übersetzen wollen. Doch dort landeten russische Luftlandetruppen und tötete außer dem General und einem Tierarzt alle dort verbliebenen deutschen Soldaten. Als er Neustadt erreichte, war der Krieg zuende und seine Kriegsgefangenen-Unterkunft war ein Bauernhof, wo er für 3 Reichsmark jeden Tag „die herrlichsten Dinge“ zu essen bekam.

Als Zugführer und später Kompaniechef einer Krankenkraftwagenkompanie hatte mein Vater das Glück, selbst nicht kämpfen zu müssen, lag aber öfter unter Beschuss. Seine Einheit wurde oft verlegt und er sah viel Leid, Zerstörung und unsinnige Befehle, gegen die er vorging. So lese ich einige Eingaben von ihm, die ganz praktische Probleme der Krankenkraftwagen beschreiben und Lösungswege aufzeigen. Aber es gab auch Urlaube und Besuche bei der Familie – und einen ziemlich deutlichen Wettbewerb mit dem jüngeren Bruder Leo um Dienstrang und Auszeichnungen, wie aus dem einen oder anderen Brief deutlich wird.

Ihre Eltern verloren ihre Villa in Wuppertal, mussten innerhalb von wenigen Stunden ausziehen und kamen notdürftig bei Verwandten unter. Er selbst musste seine Wohnung ebenfalls räumen, den Wohnraum war knapp und wurde bei Leerstand beschlagnahmt. Da er ja als Soldat „im Feld“ war, stand die Wohnung leer, denn Frau und Kind waren bei den Schwiegereltern. Sein Widerspruch gegen die Beschlagnahmung ist nicht erhalten, aber die abschlägige Antwort darauf.

Auch die Schwierigkeiten der unmittelbaren Nachkriegszeit werden durch die Briefe lebendig. Die Stunde 0. Alles war zusammengebrochen – jetzt gibt es sieben Monate kein Lebenszeichen. Niemand weiß, ob die Verwandten noch leben. Der erste Brief nach Kriegsende datiert vom 26. Oktober 1945 und wird gleich dreimal versandt, damit zumindest vielleicht ein Brief ankommen kann. In diesem Brief beschreibt mein Vater seine letzten Kriegstage:

Wie Euch wohl bekannt war, steckte ich seinerzeit in dem letzten Zipfel des zusammengedrückten Ostpreussens und zwar zuerst in Bladiau und Heiligenbeil. Von dort gab es für uns wenig Aussichten auf die Zukunft, denn nicht einmal die Verwundeten kamen weg. Es gab zu große Schwierigkeiten mit dem zugefronenen Haff und wenn die Leute schließlich bis nach Pillau kamen, dann fehlte dort der Schiffsraum zum Abtransport in die Heimat und die dauernden russischen und amerikanischen Luftangriffe auf Pillau setzen ein. Deshalb gab es für uns keine Hoffnung. Ich persönlich glaubte ja immer an ein Wunder, aber als unser Kessel immer kleiner wurde und Heiligenbeil in russische Hand fiel und unser ganzer Raum kaum 30 km lang und 20 km breit war, da schwand die Hoffnung immer mehr. Wir konnten überall von höher gelegenen Punkten eingesehen werden, die Artillerie konnte uns überall erreichen, ja sie schoss schon oft über uns heraus aufs Meer beziehungsweise in die Nehrung oder das Haff. Immer kleiner wurde der Raum immer verzweifelter die Lage. Unaufhörlich belegten uns die Flieger mit Bomben, ein Fahrzeug nach dem anderen fiel aus, ein Mensch nach dem anderen und unser schöner Viehbestand wurde uns restlos zerbombt. … Ich kam nach Balga. Dort steigerte sich alles bis zur Unerträglichkeit… Einmal trafen drei Bomben mein Haus und ich war gerade noch vom Pferd in den Keller gestürzt. Das Pferd war weg, das Haus ein Trümmerhaufen, aber ich konnte mich mit fünf Mann aus den Trümmern herausarbeiten. An ein Abrücken war nicht zu denken, denn unzählige Verwundete waren zu versorgen… Als der Russe dann kurz vor Balga war, räumten wir bei Nacht und verlegten zu Fuß nach Kahlholz, denn Fahrzeuge hatten wir nicht mehr… Wir zogen am Ufer des Haffs entlang. Jeden Augenblick schoss der Russe mit seiner Stalinorgel in das Menschengewoge, wer liegen blieb, wurde überfahren oder zertrampelt. Dazu warfen die Flugzeuge Phosphor in die Menschen. Es ist nicht zu beschreiben…

Ich erfahre auch, dass Hamburg keine weiteren Menschen aufzunehmen bereit war und man froh sein konnte, wenn man irgendwo einen Kellerraum zugewiesen bekam. Ohne Heizung, ohne Fenster, aber wenigstens ein Dach über dem Kopf. Dass man nicht in die sowjetisch besetzten Gebiete reisen durfte und so die Familien getrennt waren. Die schwierige Versorgungssituation… Es findet sich auch ein Entnazifizierungsformular der englischen Militärregierung in den Unterlagen und ein erfolgloser Antrag zum Besuch der ersten Leipziger Messe nach Kriegsende. Aber aus all den Briefen lese ich den Willen heraus, aus der jeweiligen Situation das Beste zu machen und  wenn ich das mit heute vergleiche, denke ich, dass wir zu oft auf zu hohem Niveau klagen.

Aber zurück zu meinem ursprünglichen Anliegen. Wann habe ich meinen letzten richtigen Brief geschrieben? Also natürlich meine ich hier keinen Geschäftsbrief, sondern private Briefe. Und auch keine Briefe zu irgendwelchen Streitthemen.  Ich kann mich nicht erinnern, es ist viele Jahre her. Aber auch ich habe Briefe immer aufgehoben und so auch meine Ordner mit Briefen von längst vergangenen Lieben, von meinen Eltern und Freunden. Wenn ich einmal tot bin, wird mein Sohn diese Briefe vielleicht lesen und er wird seinen Vater etwas anders kennenlernen – ganz so, wie es mir jetzt mit dem kleinen Schatz aus längst vergangenen und längst überstandenen Zeiten ergeht.

Die digitale Zeit hat ihre Vorteile, aber auch große Nachteile. Bilder werden kaum noch ausgedruckt und lagern auf nur zeitlich beschränkt nutzbaren Festplatten, USB-Sticks, CDs oder DVDs, Nachrichten liegen irgendwo auf Servern oder auf Smartphones, die nach zwei Jahren ausgetauscht werden. Damit ist das Vergessen schon „vorprogrammiert“. Und dennoch sind diese Bilder, Emails und Nachrichten auch wert, erhalten zu werden.

Das ist, nebenbei bemerkt, auch ein Problem in Unternehmen. Dort wird zuviel weggeworfen und eine ordentliche Archivierung findet kaum noch statt. Ich habe das bei mehreren Unternehmen erlebt und stets versucht, dieser Wegwerfgesellschaft entgegenzutreten, indem ich zumindest ein paar Exemplare von Fotos, Zeitschriften und Prospekten archiviert habe.

Nicht anders sollte es im privaten Bereich auch sein. Man muss nicht alles aufheben, aber eine Art Familienarchiv mit ausgedruckten, vielleicht in Alben geklebten Bildern mit Begleittexten für Erinnerung und Erklärung sollte es schon geben. Da kann man dann auch die Briefe einkleben, ganz einfach im Briefumschlag.

Über Markus Burgdorf

Markus Burgdorf hat jahrelange Erfahrung als Journalist, PR-Manager und PR-Berater. Seine Spezialgebiete sind Telekommunikation, Automobil und Bau in allen ihren vielfältigen Facetten.

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